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wieder Schein

Ivan Ebel

Übersetzung: Christina Kott


wieder Schein - Couverture - Deutsch
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« Das ist die Geschichte eines Mannes, der in seiner Kindheit von einem Bild geprägt wurde. » So beginnt der berühmte Film La jetée (dt. Am Rande des Rollfelds) von Chris Marker aus dem Jahr 1962. Es ist die Geschichte eines Mannes, den man zurück in die Vergangenheit schickt und dazu zwingt, auf eine Zeitreise in seine Kindheit zu gehen, um dort Hilfe für den Wiederaufbau der Erde zu suchen. Es ist die Geschichte einer zerstörten Gesellschaft, einer verzweifelten Menschheit, die nach einem Atomkrieg in einem dem Untergang geweihten Raum lebt. In der Vergangenheit und der Zukunft versuchen die Kriegsgewinner, Hilfe für die Gegenwart zu holen. Die prägende Erinnerung, die den Mann seit seiner Kindheit verfolgt, ist diejenige seines eigenen Todes, dem er als Kind auf der Aussichtsplattform des Flughafens Paris-Orly beiwohnt … Dieser Experimentalfilm, ein wahres Meisterwerk des Science-Fiction-Films, besteht mit Ausnahme einer kurzen Sequenz aus einer Folge von kommentierten Fotografien, aus Standbildern, die in langsamem Rhythmus aufeinander folgen. In scharfem Kontrast zur Filmtradition bringt diese paradoxe Machart das dem Drehbuch zugrundeliegende Thema der Zeit, der Erinnerung und des Augenblicks bestens zur Geltung. Die Idee einer Situation, die sich bis ins Unendliche wiederholt, und einer Person, deren Doppelgänger präsent und die ihr eigener Beobachter ist, durchzieht den ganzen Film. Gänzlich neue Bahnen eröffnen sich dem Denken durch die Möglichkeit, einen Augenblick noch einmal zu erleben, ihn zu wiederholen, durch die Zeit zu reisen wie man durchs Weltall reist, und zu versuchen, die Vergangenheit und die Zukunft zu verändern. Die durch den Aufeinanderprall von Gegensätzen, an den Grenzen von Außen und Innen, Vergangenheit und Zukunft, Sichtbarem und Unsichtbarem entstandene Reibung gibt plötzlich den Blick auf bisher ungeahnte, noch zu erforschende Möglichkeiten frei.


Der Widerschein hat als Phänomen die Besonderheit, dass er die Wahrnehmung des Gegenstands, auf dem er erscheint, verändert, und zwar je nach der Position desjenigen, der ihn betrachtet. Je nach seiner Intensität kann er sogar den Gegenstand in den Hintergrund rücken, indem er das reflektierte Bild, das des Betrachters und der ihn umgebenden Welt, an seine Stelle setzt. So wird eine Parallelwelt auf den Gegenstand projiziert, die sich in gleichem Maß wie die reale Welt entwickelt. Auf der anderen Seite des Spiegels lädt das sich bewegende Selbstbild dazu ein, sich die Möglichkeit seiner autonomen Existenz vorzustellen: was macht mein Spiegelbild, wenn ich mich wegdrehe? Die Verdopplung des Raums, die das Gefühl der Allgegenwart hervorruft, scheint hier tatsächlich in das offenbar unerschütterliche Verhältnis von Raum und Zeit einzugreifen: vor unseren Augen wird aus dem Hier und Jetzt ein Hier, Dort und Jetzt.


Der Versuch der Verdoppelung eines Bildes oder einer Situation anhand von materiellen, und nicht künstlichen Mitteln, rührt aus einem umgekehrten Experiment, nämlich der Ausführung einer gleichen Geste in zwei unterschiedlichen Augenblicken, in einem gleichen Raum – mit einem Wort, dem Versuch, den Augenblick zu reproduzieren.


Obwohl dieses Experiment zwar letztendlich zum Scheitern verurteilt ist, verliert es nicht an Bedeutung, denn es wirft ein neues Licht auf das komplexe Band zwischen Raum und Zeit. Es zwingt uns zum Nachdenken über den Status des gegenwärtigen Moments, diesen besonderen Raum, der ausweicht, ständig in Bewegung ist und sich der Beobachtung entzieht. Doch der Widerschein besitzt noch andere Eigenschaften. Bei geringerer Intensität verändert er die Form des Gegenstands, ohne ihn zu verbergen. Durch die Bewegung des Beobachters kann das mit Absicht geschaffene Spiegelbild die gewollten Formen erscheinen und verschwinden lassen, und damit die Eigenschaften des Gegenstands um das Vielfache erhöhen. Unabhängig von seinem Wesen agiert es daher als Multiplikator von Bildern. Das Spiegelbild ist weder Farbe noch Materie, und existiert nur, indem es reflektiert, was wir auf es projizieren; es verändert auf diese Weise die Umgebung. Das Gleiten von einer Welt in die andere, der Übergang vom Objekt zum Widerschein, von der realen Welt zu ihrem virtuellen Abbild geschieht mittels nicht wahrnehmbarer Zwischenetappen, die das Nachdenken anregen über die Möglichkeit, die Gegenwart zu ergreifen und zu begreifen, ohne dabei auf Negation – weder Zukunft noch Vergangenheit – zurückzugreifen. Wie kann man also den Augenblick inszenieren, diesen ungreifbaren Raum, dem doch niemand entkommen kann? Weil die Kunst ein Fenster mit einem anderem Blick auf die Welt öffnet, bietet sie hier einen günstigen Nährboden für Reflektion, Beobachtung und Experimentierung: eine Zone auf halbem Weg zwischen Utopie und Realität, in der sich die abstraktesten Gedanken in konkreten und begreifbaren Formen herauskristallisieren können.